Volksdorfer Schachecke Nr. 28


Schach und Künstliche Intelligenz:

GAME over oder GAME changer

von Rudolf Angeli

Während des nun zu Ende gehenden Jahres füllte eine sich auftürmende Nachrichtenwelle die Gazetten und Magazine: die exponentiell steigende, breitflächige Digitalisierung und die in alle Bereiche wie Strom eindringende Künstliche Intelligenz (KI). Nur die Katastrophenmeldungen von Krieg und Klima verdrängten sie von den Titelseiten.

Das Schach spielte hierbei keine einfache Nebenrolle, sondern insbesondere bei der Weiterentwicklung der KI eine führende; manche betiteln das gar als bedeutenden GAME CHANGER.

Dabei liegt der Zeitpunkt dieser entscheidenden Wende schon wieder eine halbe Dekade in der Vergangenheit: Am 5. Dezember 2017 präsentierte Deep Mind, eine Spezialfirma für Entwicklung und Programmierung von Künstlicher Intelligenz (gegründet 2010, ab 2014 Google zugehörig) ihr neuestes KI-Kind AlphaZero, eine Weiterentwicklung von AlphaGo Zero (2016) und dessen Vorgänger AlphaGo (2015), die wiederum sich beide als für Menschen unschlagbare Go Spieler erwiesen hatten. Das Brettspiel Go gilt als wesentlich komplexeres Spiel als Schach und genießt in Asien, insbesondere China ein hohes Ansehen. Zwei Millionen Chinesen wohnten online dem Go-Kräftemessen zwischen ihrem verehrten, weltbesten Go-Spieler Lee Sedol und der KI AlphaGo im März 2016 bei und erlebten die bittere Niederlage ihres menschlichen Idols. Für ganz China und ihre politische Führung war dies nicht ein einfacher Spielverlust, sondern ein wachrüttelnder Sputnik-Schock und Auslöser einer veränderten Bedeutungsgewichtung und Investitionspolitik für KI-Forschung und Entwicklung in China.      
Bereits kurz danach präsentierte Deep Mind den Nachfolger AlphaGo Zero, das dem Sedol-Bezwinger AlphaGo in einem internen KI-Match eine vernichtende Niederlage bescherte (100:0).              
Und nur ein Jahr später (2017) wurde AlphaZero „geboren“, das nicht nur in der Schachwelt für großes Aufsehen sorgte. Zwar hat man sich längst an die besser als Menschen spielenden Schachprogramme gewöhnt (der „Wendeverlust“ erfolgte schon im Mai 1997 beim Match von Garry Kasparow gegen IBM’s Deep Blue), aber AlphaZero setzte deutlich noch eins drauf und zeigte sich nicht nur von übermenschlicher Spielstärke, sondern degradierte auch alle bis dahin zu Superschachprogrammen entwickelten Algorithmen. In mehreren Matches gegen das bis dahin als stärkstes Schachprogramm geltende Stockfish (8) konnte es seine Überlegenheit demonstrieren.
Die KI AlphaZero hat die Tür zu neuen Denkräumen aufgestoßen, die wir nie erreichen werden und kaum nachvollziehen können. Was ist das Neue? Was ist anders als bisher?   
Die bedeutenden Schlüssel liegen im implementierten Selbstlernmodus (deep learning) mit feedback Trainig (reenforcement learning), und alles geschieht mit übermenschlicher Geschwindigkeit und Zugriff auf unvorstellbare Daten-/Informationsvolumina. AlphaZero hat sich mit nur wenigen programmierten Basisregeln in vier Stunden das Schachspielen selbst beigebracht und durch millionenfaches, verbesserndes gegen sich selbst Spielen auf dieses überirdische Niveau gehievt.           
Doch der eigentliche Knaller, für den ich den vielfach überstrapazierten Begriff „Zeitenwende“ für berechtigt halte, liegt in der Erkenntnis von Demis Hassabis, dem Chef von Deep Mind: „Wir halten die Grundstruktur und Vorgehensweise von AlphaZero für transformierbar auf viele Problemstellung anderer Kategorien, bei denen wir Menschen uns schwertun oder zu lange für Lösungsmöglichkeiten brauchen.“          
Und tatsächlich wurde AlphaZero mit geringfügigen Anpassungen auf diverse, unterschiedliche Disziplinen (Mathematik, Biologie, Sprache, usw.) und bestehende Probleme angesetzt und erzielte spektakuläre Ergebnisse.    
Besonders beeindruckend fand ich beispielhaft die jüngsten Ergebnisse von AlphaFold 2, wo es um die schwierige Enträtselung und Vorhersage der Proteinfaltung in der Mikrobiologie des Menschen geht. Die korrekte oder fehlerhafte, dreidimensionale „Faltung“ unserer Aminosäurenketten entscheidet zwischen Gesundheit und schwerwiegenden Krankheiten. Gemeinsam mit der sich etablierenden Gentechnik versprechen Erkenntnisse daraus sprunghafte Verbesserungen in der Medizin und Gesundheitsvorsorge.
Vom KI-Durchbruchsjahr 2017 beim Schach-Spiel zum generellen Problemlöser 2023! 
Das macht mich trotz der vielen „Großbaustellen“, die die Menschheit hat, hoffnungsvoll auf das Jahr 2023, das für mich das Jahr der KI wird, und für uns ein rettender Deus ex Machina werden kann.

Zum Nachspielen: die letzte Match-Partie Deep Blue – Kasparow am 11. Mai 1997 (eine der kürzesten Verlustpartien seiner Karriere):


1. e2–e4 c7–c6 2. d2–d4 d7–d5 3. Sb1–c3 d5xe4 4. Sc3xe4 Sb8–d7 5. Se4–g5 Sg8–f6 6. Lf1–d3 e7–e6 7. Sg1–f3 h7–h6?! 8. Sg5xe6!
(Diagrammstellung)

Dd8–e7 9. 0–0 f7xe6 10. Ld3–g6+ Ke8–d8 11. Lc1–f4 b7–b5 12. a2–a4 Lc8–b7 13. Tf1–e1 Sf6–d5 14. Lf4–g3 Kd8–c8 15. a4xb5 c6xb5 16. Dd1–d3 Lb7–c6 17. Lg6–f5 e6xf5 18. Te1xe7 Lf8xe7 19. c2–c4 1:0

 

(Zeichenerklärung: K – König, D – Dame, T – Turm, L – Läufer, S – Springer, x – schlägt, + Schach)

2003 erschien ein Dokumentarfilm über das Match mit dem Titel „Game Over, Kasparov and the Machine.“

2019 erschien bei New In Chess ein detailreiches Buch mit dem (positiveren) Titel „Game Changer - AlphaZero’s Groundbreaking Chess Strategies and the Promise of AI". Matthew Sadler (GM) und Natasha Regan (WIM) zeigen an ausgewählten Partien von AlphaZero und Stockfish 8, was wir als Menschen durchaus von der überirdischen KI lernen können.       

Ein empfehlenswertes Buch für die Zeit zwischen den Jahren und fürs neue Jahr, das unser menschliches Spielen bereichern und erweitern kann.      
Das Vorwort schrieb übrigens ein gewisser Garry Kasparov, die Einführung DeepMind CEO Demis Hassabis.

 

 

Wir wünschen allen Lesern der Schachecke ein frohes Weihnachtsfest, viel Hoffnung für das neue Jahr 2023 und nur die besten Züge!